Das blaue Ei des Sullivan McNullivan

von Felix Anker

Vorsichtig kratzte Sullivan McNullivan sein blaues Ei, das vor ihm auf dem Tisch ruhte. Seine Lippen berührten beinahe die kalte Oberfläche des Eies, während er mit einer Stimme, die durchaus als geheimnisvoll beschrieben werden könnte, flüsterte: »Arschlochdrecksaupenner«. Nichts geschah. Sullivan drehte das Ei und versuchte es erneut.

 

»Hurenfickpisse.« Das Ei verströmte nicht mal den Hauch eines Lichtes, nur einen schwachen Moosgeruch. Sullivan lehnte sich resigniert zurück und seufzte. Er hatte fast alle möglichen Kombinationen ausprobiert, die normalerweise zum Erfolg führten, doch dieses Ei erwies sich als äußerst knifflig. 

 

An dieser Stelle ramme ich den Vorschlaghammer durch die vierte Wand, da du dich bestimmt fragst, was zum Teufel hier vor sich geht. Glücklicherweise bin ich hier, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Dies werde ich mittels einer Technik tun, die du in deinen zahllosen Schreibworkshops vermutlich nicht gelernt hast – »Tell don’t Show«. Immerhin handelt es sich hier um eine Kurzgeschichte, und ich habe nicht die Zeit, Sullivans gesamte Welt mit all den Bäumen und Bergen und Undsoweiters zu beschreiben. 

 

Die Sache verhält sich folgendermaßen: Sullivan McNullivan lebt in einer Welt voller Magie. Ja, das hier ist eine Fantasy-Geschichte. Geben wir ihm also spitze Ohren, oder? Eine Körpergröße von 150 Zentimetern. Für diejenigen, die Schwierigkeiten beim Vorstellen von Größen haben: Das entspricht in etwa zehn aufrecht stehenden, aufeinandergestapelten Ratten, wobei der Schwanz natürlich außer Acht gelassen wird. Jetzt darfst du dir noch auswählen, welche Farbe seine Haut haben soll, falls das etwas ist, das für dich wichtig ist. Aber mach ihn nicht grün, das ist keine Science-Fiction-Geschichte. 

 

Magie kommt in Sullivans Welt in Form von Eiern, daher trägt sie den äußerst kreativen Namen Eierwelt (Gott sei Dank nicht in Scheibenform, das könnte urheberrechtlich bedenklich werden). Zauberer in Eierwelt wirken ihre Magie, indem sie die schlimmsten Schimpfwörter aussprechen, die sie kennen. Stirbt ein Zauberer während eines Duells, dann verschwindet er mit einem leisen Puff und hinterlässt nichts außer seinem letzten, nicht gewirkten Zauber in Form eines Eies. 

 

Jetzt magst du dich bestimmt Folgendes fragen: »Ist Eierwelt nicht überflutet mit magischen Eiern?« Das ist wahrlich eine sehr gute Frage! In Eierwelt gibt es zum Glück Wesen wie Sullivan McNullivan, die auf einem der magischen Schrottplätze arbeiten und zu deren Job es gehört, die alten Eier einzusammeln und fachgerecht zu entsorgen. Allerdings fiel es niemandem auf, wenn gelegentlich einige davon verschwanden. Also nahm Sullivan gewöhnlich ein paar von ihnen mit und versuchte, die Magie aus ihnen herauszukitzeln, indem er eine ganze Reihe von sehr üblen Schimpfwörtern miteinander verband, bis er die richtige Kombination gefunden hatte. Letzte Woche zum Beispiel, da fand er ein großes rotes Ei. Beim dritten Versuch lag er bereits richtig und sein Gemächt nahm sofort ungesunde Ausmaße an. Drei Tage dauerte es, bis es wieder geschrumpft war. Unser armer Sullivan verbrachte viel Zeit damit, sich zu fragen, was das wohl für ein Duell gewesen war. 

 

Das blaue Ei, das er heute mitgebracht hatte, war besonders kompliziert. Sullivan wusste nie, was passieren würde, wenn er die richtige Kombination herausfand, aber er war ein neugieriges, spitzohriges Wesen und gab nicht so schnell auf. Er probierte und probierte, sämtliche sprachliche Obszönitäten, die er kannte, alle Kombinationen von Arsch und Fotze und Scheiße, ja, sogar Unflat, Schielbock und Knallfrosch, schließlich konnte man nie wissen, ob der verstorbene Zauberer nicht doch schon etwas älter war. 

 

Als ich vor einigen Wörtern behauptet hatte, dass Sullivan nicht schnell aufgab, war das eine Lüge. Ich bin ein unzuverlässiger Erzähler. Sullivan hatte ziemlich bald den Punkt erreicht, an dem ihm die Lust verging. 

 

»Das ist doch doof«, murmelte Sullivan und schwebte davon. 

 

Er hatte ja nicht geahnt, was für ein höflicher Zauberer der ehemalige Besitzer des Eies war.

 

 

 

Felix Anker ist Mitherausgeber dieses Magazins und nutzt das natürlich, um sein eigenes Zeug zu veröffentlichen. Hat aber auch schon Veröffentlichungen in Magazinen, über die andere Menschen entschieden haben. Humor, Science-Fiction und Merkwürdiges in deutsch- und englischsprachigen Literaturmagazinen (State of Matter, Don’t Submit!, A Thin Slice of Anxiety, UND, Veilchen, Johnny, …).

© Der Schuhschnabel. ISSN 2942-1756. Alle Rechte bei den Autor:innen. 

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte prüfen Sie die Details und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.